Serie Postevangelikalismus Teil 5:
Streit um die Bedeutung des Kreuzes

Im Zentrum der Kritik einiger postevangelikalen Theologen steht die für viele Menschen schier unerträgliche Vorstellung eines stellvertretenden Opfers. Joachim Schuster hat sich mit diesem Thema intensiv auseinandergesetzt.

Naaman war ein syrischer Feldherr im 9. Jahrhundert v. Chr. (vgl. 2 Kön 5). Er war aussätzig und hörte von einer jüdischen Sklavin davon, dass es in Israel den Propheten Elisa gab, der Krankheiten heilen konnte. Als er vor der Tür des Propheten stand, wurde ihm mitgeteilt, dass er sich sieben Mal im Jordan untertauchen sollte, um geheilt zu werden. Diese Anordnung widersprach allem, was er nach seinen kulturellen und religiösen Erfahrungen erwartet hätte. Und fast wäre er verärgert und unverrichteter Dinge wieder zurück nach Syrien gereist. Nur, weil er auf seinen Diener hörte, der im Kern sagte „Mach es doch einfach trotzdem!“, erlebte er Heilung und hatte eine persönliche Begegnung mit dem Gott Israels.

Warum rufe ich uns diese biblische Geschichte in die Erinnerung? Wir sind im fünften Teil der Serie über Anfragen von postevangelikalen Christen an den Glauben. Ein Grund, warum traditionelle Glaubensvorstellungen in die Kritik von Postevangelikalen geraten, ist gerade die Tatsache, dass manche Glaubensaussagen nicht zu ihren Vorstellungen und Erwartungen an Gott und seinen Charakter passen.

Kritische Anfragen

In diesem Artikel soll es schwerpunktmäßig um die christliche Heils- und Erlösungslehre gehen. Hierzu gab es schon immer kritische Anfragen: Brauche ich überhaupt Erlösung und wenn ja, muss sie mir dann in irgendeiner Form von außen zugeführt werden? Ist Jesus tatsächlich der einzige Weg zum Heil? Und wie geschieht Erlösung? Ist ein stellvertretendes Opfer, also der brutale Tod einer anderen Person, nötig oder kann mich Gott nicht einfach aus seiner tiefen Liebe heraus mit sich selbst versöhnen? Gerade diese letzte Frage ist sehr tiefgehend, weil sie sowohl mein Wesen als Mensch („jemand anders muss meine Situation vor Gott ändern“) als auch den Charakter Gottes betrifft („Gott muss durch ein blutiges Opfer zufriedengestellt werden“). Und damit steht sie auch im Zentrum der Kritik einiger postevangelikalen Theologen.

Gute Fragen – problematische Antworten!

Mit dem stellvertretenden Opfer steht eine zentrale Position der christlichen Glaubensgrundlage in Frage: Der einzige Weg zum Heil für den Menschen ist die Versöhnung mit Gott durch das stellvertretende Opfer von Gottes Sohn für die Vergebung der Sünden. Anfragen an diese Position nun einfach als Irrlehre abzutun, wäre zu einfach. Wie auch bei anderen postevangelikalen Anfragen an Glaubensaussagen, spricht die Kritik wichtige Fragen an.

Die Kritik richtet sich an ein bestimmtes einseitiges und damit auch falsches Gottesbild, das zumindest unterschwellig immer noch weitergegeben wird: Gott als „Polizist“, der jede kleine Sünde sofort erbarmungslos durch Unglück bestraft. Ein beleidigter und rachsüchtiger Herrscher, dessen Zorn über Sünde durch Gewalt, Blut und Tod beschwichtigt werden muss. Ein kleinlicher Gott, der Sühne oder Bezahlung erwartet, wenn ein Mensch seine Hoheit und Allmacht nicht ausreichend anerkennt. Ein Gott, der in seinem Handeln nicht durch bedingungslose Liebe, sondern durch kalte Rache und herzlose Gerechtigkeit bestimmt wird. Dagegen wünschen sich postevangelikale Christen ein Christsein, das nicht Zorn und Ausgrenzung, sondern Liebe und Annahme ausstrahlt. Einen Glauben, der nicht von Gewalt und Rache, sondern von Frieden und bedingungsloser Vergebung geprägt ist.

Dagegen wünschen sich postevangelikale Christen ein Christsein, das nicht Zorn und Ausgrenzung, sondern Liebe und Annahme ausstrahlt. Einen Glauben, der nicht von Gewalt und Rache, sondern von Frieden und bedingungsloser Vergebung geprägt ist.

Kritik an der Opfertheologie gibt es schon lange vor den postevangelikalen Stimmen. Ein prominenter Angriff erfolgte von dem Philosophen und Gotteskritiker Friedrich Nietzsche: „Das Schuldopfer und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heidenthum!“ (Der Antichrist, Abschnitt 41). Während Nietzsche die Sühnetheologie ablehnt, weil sie dem autonomen Menschen seine Macht nimmt, geht es im postevangelikalen Denken vor allem um den Charakter Gottes. Das stellvertretende Opfer des Gottessohnes ist für sie letztlich nichts weiter als eine „kosmische Kindesmisshandlung“; und diese Vorstellung ist unerträglich und muss abgelehnt werden: „Das stellvertretende Strafgericht ist gleichbedeutend mit ‚Kindesmisshandlung‘ – ein rachsüchtiger Vater, der seinen Sohn für ein Vergehen bestraft, das er nicht einmal begangen hat … In Wahrheit ist das nur eine krasse ‚Demaskierung‘ des gewaltsamen vorchristlichen Denkens hinter einer solchen Theologie.“ ⁽¹⁾

Im Gegensatz dazu verstehen viele postevangelikale Christen den Tod von Jesus nicht als stellvertretenden Sühne für die Schuld des Menschen, er ist aus ihrer Sicht vielmehr ein Zeichen dafür, dass Jesus seine Botschaft der Liebe Gottes in letzter Konsequenz ausgelebt hat. Andreas Neyer fasst dies z. B. auf seiner Internetseite folgendermaßen zusammen:
„Eine nicht-paulinische, mehr an den Evangelien orientierte Sichtweise eröffnet heutigen Menschen eine alternative, überzeugendere Antwort: Jesus wurde für seine Lehre von der bedingungslosen Liebe Gottes und ihrer konsequenten Umsetzung umgebracht.“ ⁽²⁾

Was steckt hinter der Ablehnung des stellvertretenden Opfers?

Warum ist die Vorstellung „Gott sendet seinen Sohn als stellvertretendes Opfer für die Sünden der Menschheit“ für viele Menschen so unerträglich? Ich sehe hierfür vor allem zwei wesentliche Gründe: Menschlicher Stolz und die Prägung durch einen bestimmten Zeitgeist.

Als Menschen geben wir nicht gerne die Kontrolle ab. Niemandem gefällt es, sich selbst als schwach und unfähig anzuerkennen, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und positiv zu verändern. Daher ist auch die Vorstellung unangenehm, dass Jesus an meine Stelle treten muss, um mich vor Gott gerecht zu machen. Denn das habe ich nicht nötig, ich kann selbst für mein Verhalten geradestehen und brauche keine Rechtfertigung durch andere.

Auch wenn das Thema „Stolz“ für einen Christen immer eine Herausforderung bleibt, erkenne ich in der postevangelikalen Ablehnung der Opfertheologie eher eine andere Ursache, nämlich die Interpretation auf dem Hintergrund eines bestimmten Zeitgeistes. Es ist tatsächlich auffällig, dass postevangelikale Positionen, die den klassischen Glaubensvorstellungen widersprechen, vor allem in eher intellektuellen Kreisen der westlichen Welt entwickelt werden, wohingegen sie in den stark wachsenden und aufblühenden Kirchen der Mehrheitswelt (Afrika, Asien, Südamerika) ebenso wie in der breiten Basis des „einfachen Gemeindevolkes“ viel weniger Thema sind.

Dieser Zeitgeist ist auf der Grundlage von Aufklärung und Humanismus gewachsen und dann von postmodernem Denken geprägt worden. Er lehnt etwas klischeehaft den „altmodischen“ Glauben der „mittelalterlichen Kirche“ ab (Machtgefälle, Rollenverständnisse, Unterdrückung anderer Meinungen, Strafe, Opfer…), steht für Toleranz und Inklusion, für eine manchmal etwas naive Ablehnung von Gewalt und ist höchst sensibel für Verletzungen, die Menschen durch Machtsysteme wie auch durch die Kirchen erlitten haben.

Auf diesem Hintergrund erscheint die Opfertheologie „mittelalterlich“ und heute nicht mehr zeitgemäß, brutal und gewaltverherrlichend. Zudem wurde die christliche „Verherrlichung“ der Opferrolle Jesu in der (Kirchen-)Geschichte immer wieder von Mächtigen benutzt, um den eigenen Machtmissbrauch geistlich zu legitimieren und schutzlose Menschen in einer passiven Opferhaltung gefangen zu halten. Wenn es daher um Fehlentwicklungen in der Kirchengeschichte und theologisch legitimierten Missbrauch von Macht durch weltliche und geistliche Autoritäten geht, haben diese Anfragen durchaus eine Berechtigung und wir tun gut daran, sensibel und aufmerksam zu sein, dass wir in unseren Gemeinden und Kirchen nicht in ähnliche Fallen tappen.

Aber im Hinblick auf Jesu stellvertretendes Opfer scheint mir die Kritik daran eher eine „Strohmann-Argumentation“ zu sein. Hier werden ein destruktives Gottesbild und eine grausame Opfertheologie angegriffen, die es auf der biblischen Grundlage so gar nicht gibt.

Einige Richtigstellungen zur klassischen Theologie des stellvertretenden Sühneopfers:

1. Unrecht muss gerichtet werden.

Die Bibel widerspricht deutlich einem zu optimistischen Menschenbild (z. B. Röm 3,10-18). Der Mensch macht sich schuldig; sündiges Denken und Verhalten ist ein Angriff gegen Gott (Röm 5,12; 8,7). Auch wenn diese Aussage heute nicht gerne gehört wird, ist es wichtig, sie als Grundlage anzuerkennen, um die Brutalität unserer Sünde und die Notwendigkeit von Versöhnung mit Gott zu verstehen. Zugleich bedeutet dies, dass Schuld oder Unrecht nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden kann. Wir brauchen nicht nur den „lieben Gott“, sondern auch den gerechten Richter-Gott, der nicht jedes menschliche Unrecht freundlich toleriert oder emotional unberührt vergibt.

Wenn wir ehrlich sind, hört ja auch unsere Toleranz auf, wenn unseren Lieben oder uns selbst böse Dinge angetan werden. Unser Gerechtigkeitsempfinden sagt uns, dass Bosheit bestraft werden muss. Das ist auch ein Grund dafür, warum im Kino immer wieder Rachethriller wie John Wick Blockbuster sind. Der kroatische Theologe Miroslav Volf schreibt im Hinblick auf Kriegsverbrechen in seinem Heimatland und die zahllosen Gräueltaten weltweit wie z. B. dem Genozid in Ruanda: „Obwohl ich früher die Vorstellung von Gottes Zorn unanständig fand, kam ich zu der Überzeugung, dass ich gegen einen Gott rebellieren müsste, der angesichts des Bösen in der Welt nicht zornig ist. Gott ist nicht zornig, obwohl er Liebe ist. Gott ist zornig, weil Gott Liebe ist.“ ⁽³⁾

2. Gott ist nicht rachsüchtig

Gott ist kein rachsüchtiger Machtmensch, der beleidigt Genugtuung sucht. Gott ist liebevoll und barmherzig, er ist aber auch heilig und gerecht (1 Joh 4,8-9; 1 Pt 1,16). Wir dürfen das Wesen Gottes nicht verkürzt oder einseitig verstehen oder das eine gegen das andere ausspielen. Aber die Tatsache, dass Gott Sünde und Unrecht nicht einfach stehen lässt, sondern richtet, macht ihn nicht zu einem brutalen Gott, der sich an der leidvollen Strafe des Sünders ergötzt. Gerade das stellvertretende Sühneopfer von Jesus Christus zeigt, wie sich Gottes Heiligkeit mit seiner bedingungslosen Liebe verbinden (Röm 5,8). Gott toleriert Bosheit nicht einfach. Das Böse, das Menschen von Menschen erleiden müssen, bleibt nicht ungesühnt. Aber in Jesus Christus nimmt Gott die unumgängliche Strafe auf sich und versöhnt den Schuldigen mit sich (Röm 3,25-26). Diese Versöhnung ist also ein Akt der grenzenlosen Liebe Gottes, nicht die Stillung von Rachegelüsten eines zornigen Gottes.

3. Jesus ist nicht passiv

Und schließlich stirbt Jesus nicht als „hilfloses Opfer“ oder als passiver „Sündenbock“. Dass die Polemik des „göttlichen Kindesmissbrauchs“ nicht zutreffend ist, zeigt sich, wenn wir uns den Hintergrund und die Funktion des Opfers Jesu genauer ansehen. Im deutschen Begriff „Opfer“ können unterschiedliche Bedeutungen mitschwingen:

Im Sinne des englischen „victim“ deutet es auf ein passives Objekt einer bösen Tat, das im besten Fall hilflos und ohnmächtig und im schlimmsten Fall selbst schuld ist, weil es sich nicht gewehrt hat (vgl. im Jugendjargon „Du Opfer!“). Im Sinne des englischen „sacrifice“ deutet es wiederum auf ein passives Objekt, das um eines höheren Zieles willen vom aktiven Opfernden dargebracht wird (vgl. das alttestamentlich Opfersystem). Außerdem kann es auch die aktive Selbsthingabe bedeuten, bei dem das Opfer nicht nur Objekt, sondern zugleich auch handelndes Subjekt ist. ⁽⁴⁾

Als Jesus als Sühneopfer für die Menschheit starb, war er kein hilfloses, schutzbedürftiges Kind, das von einem brutalen Vater in den Tod gezwungen wurde. Vielmehr war Jesus, was die Entscheidung, den Sühnetod zu sterben anging, das aktive Subjekt der Hingabe. Eine zentrale Aussage der biblischen Lehre ist gerade die Freiwilligkeit von Jesu Opfer (Joh 10,18, Joh 15,13, Gal 2,20, Eph 5,2). Dieses Motiv der Selbstaufopferung zugunsten eines geliebten Menschen findet sich übrigens nicht nur in der christlichen Theologie, sondern regelmäßig in der Popularkultur, ob in Büchern oder Filmen. Wir Menschen schätzen und achten eine solche Tat!

Eine zentrale Aussage der biblischen Lehre
ist gerade die Freiwilligkeit von Jesu Opfer.

Die Aussagen des Hebräerbriefes zum Sühneopfer Jesu stellen klar, dass es weit über das alttestamentliche Opferverständnis („sacrifice“) hinausgeht. Jesus ist das „bessere Opfer“ (Hebr 9,23-26) und kein hilfloser „Sündenbock“. Zugleich ist er auch der bessere Hohepriester, wenn er sich selbst als Opfer darbringt (Hebr 8,1-6). Der Fokus liegt hier also nicht, wie die postevangelikale Polemik nahelegt, auf Jesu Rolle als hilfloses Opfer gegenüber einem gewaltsamen Opferenden, sondern auf seiner selbstbestimmte Hingabe aus Liebe zu den Menschen, die sich tatsächlich nicht selbst aus ihrer Rolle als Schuldige gegenüber Gott herausretten könnten.

Wenn wir auf den Glauben an Jesus als unser stellvertretendes Opfer verzichten, verlieren wir sehr viel: Sowohl den mächtigen Gott als unseren Beistand, der bei Unrecht nicht nur mitleidig zusieht, sondern Böses bestraft und damit den Unterdrückten rechtfertigt als auch einen Gott, dessen Liebe so groß ist, dass er bereit ist, alles zu geben, um Menschen aus der Macht von Schuld und Schande zu retten.

Fußnoten:

1  Steve Chalke, „Redeeming the cross from death to life“, in Consuming Passion: Why the killing of Jesus really matters, Hg. Simon Barrow und Jonathan Bartley, Darton, Longman and Todd, 2005: 22
2  Andreas Neyer, „Abschied vom Opfertod - Das Christentum neu denken“, 2010,
andreas-neyer.de/wp-content/uploads/2020/01/Abschied-vom-Opfertod.pdf
3  Miroslav Volf, „Free of charge: Giving and forgiving in a culture stripped of grace“, Zonodervan, 2005: 139
4  Diese Unterscheidung habe ich bei Kristina Augst, „‘Du Opfer!‘ Victim, Sacrifice, Hingabe – Theologische Facetten des Opferbegriffs“, Schönberger Hefte 1/12:3, gefunden.

Artikel erschienen in:
Offene Türen 2023-4
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