Serie Postevangelikalismus - Teil 6:
Die Schönheit der Selbstverleugnung wiederentdecken

BENJAMIN THULL
Leiter Referat kite

Selbstverleugnung scheint ein völlig überholtes Thema zu sein. Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung sind aktuell die Schlagworte zum Glücklichsein. Benjamin Thull allerdings ist überzeugt: Selbstverleugnung um Jesus’ willen bereichert das Leben.

„Eins fehlt dir“, so die berühmten Worte von Jesus an den reichen Jüngling, bevor er ihn auffordert, all seinen Besitz zu verkaufen. Wenn Jesus’ Aussagen über Besitz in unserem reichen Deutschland nichts an Aktualität verloren haben, dann könnte das Gespräch heute auch so verlaufen: „Eins fehlt dir“, eine spannungsgeladene Pause von Jesus, dem Meistererzähler, „geh hin, verleugne dich selbst, finde Leben bei mir und komm, folge mir nach!“ Denn: In unserem Zeitalter der Selbstverwirklichung gilt es, unbedingt die vergessene Schönheit der Selbstverleugnung wiederzuentdecken. Herzlich willkommen zum sechsten Artikel in unserer Serie über Post-Evangelikalismus mit einem Thema, das heute wichtiger ist denn je.

Die Krise in unseren Gemeinden – eine Problemanalyse

Immer mehr schlaue Menschen kommen zu dem Ergebnis: Ein zentraler Grund für die Krise der Gemeinden im Westen ist, dass wir über viele Jahre Christsein von Nachfolge getrennt haben. Uns ist das Verständnis dafür verlorengegangen, dass Jesus nicht nur alles für unser Leben nach dem Tod bedeutet, sondern auch alles für unser Leben hier und jetzt. Es ging nie nur darum, mit Jesus das Jenseits zu verbringen, sondern immer auch darum, bereits im Diesseits mit Jesus zu sein, von Jesus zu lernen und Jesus ähnlich zu werden. Christsein heißt Nachfolge. Und Nachfolge heißt: bei Jesus in die Schule gehen, zu den Füßen unseres Rabbis sitzen, ihn auf uns abfärben zu lassen – ein Wachstumsprozess also, der in der Gegenwart startet und bis in die Ewigkeit hinüberreicht. Derart gefärbt gehen wir dann in alle Welt und machen Menschen zu Jüngern und lehren sie, das zu halten, was Jesus geboten hat. (vgl. Mt 28,19-20)

In den letzten Jahrzehnten war unsere Reaktion auf eine immer stärker werdende hedonistische Gesellschaft jedoch ein häufig zu einseitiges, bedürfnisorientiertes Christsein. Und keine Frage, daran war nicht alles schlecht, bietet doch das Evangelium mancherlei Anknüpfungspunkte dafür: Jesus ist das wahre Brot, das Wasser des Lebens, derjenige, der unsere Bedürfnisse zutiefst stillt. Der Grat jedoch ist schmal. Ohne notwendige Ergänzung formt eine einseitig bedürfnisorientierte Verkündigung ein konsum-orientiertes Christsein. Jesus’ Hauptjob ist dann nicht mehr, diese Welt zu erlösen und mit Gott zu versöhnen, sondern mich selbst glücklich zu machen.


Ohne notwendige Ergänzung formt eine einseitig bedürfnisorientierte Verkündigung ein konsum-orientiertes Christsein. Jesus’ Hauptjob ist dann nicht mehr, diese Welt zu erlösen und mit Gott zu versöhnen, sondern mich selbst glücklich zu machen.


In der Folge werden all seine Aufforderungen, die scheinbar meiner Bedürfnisbefriedigung entgegenstehen, unplausibel:

  • Auf diese Liebesbeziehung neben der Ehe verzichten? Nein, du willst doch, dass ich glücklich bin, Jesus.
  • Auf diesen Luxusurlaub mit Flugreise ins Drittweltland verzichten? Nein, du willst doch, dass ich glücklich bin, Jesus.
  • Auf die Selbstschutz-Lüge am Arbeitsplatz verzichten? Nein, du willst doch, dass ich glücklich bin, Jesus.

Ich glaube, liebe Leser, wir ahnen noch nicht einmal, wie sehr Jesus unser Lebensglück am Herzen liegt. Das Kreuz ist der eindrücklichste Beweis dafür!

Doch wir müssen genauer hinsehen und die Gefahr erkennen, die sich in den letzten Jahrzehnten eingeschlichen hat, nämlich die Gefahr eines fatalen Tausches. Eines Tausches, bei dem nicht mehr unser Erlöser auf dem Thron sitzt und wir uns um ihn drehen, sondern Ich-meiner-mir-mich auf dem Thron sitzt und unser Erlöser sich wie eine Art kosmischer Butler um mich und meine Bedürfnisse drehen soll. Und wenn Jesus „seinen Job schlecht macht“, dann bin ich raus. Ich glaube, wir haben die uralte Grundlage von Jesus-Nachfolge aus den Augen verloren: Selbstverleugnung. Es ist Zeit, das wieder zu ändern!

Was meint Selbstverleugnung?

Mir ist bewusst, dass Selbstverleugnung für viele ein verbrannter Begriff ist – aus gutem Grund. Zu oft ging ein verzerrtes Bild von Selbstverleugnung mit pädagogischer Manipulation oder klerikaler Machtausübung einher. Sätze wie „Gott muss deinen Willen brechen“, sind für Kinder, aber auch für Erwachsene zutiefst toxisch.

Wenn du das erleben musstest, tut mir das von Herzen leid! Danke für dein Vertrauen, den Artikel bis hierhin zu lesen. Lass uns nun gemeinsam entdecken, um wieviel schöner und heilsamer das ist, was Jesus mit seiner Aufforderung zur Selbstverleugnung eigentlich meinte.

Zunächst einmal eine Begriffsklärung, die ich mag:

„Ja sagen zu Jesus‘ Einladung heißt Nein sagen zu tausend anderen Dingen. Wie die Mönche es ausdrücken: ‚Jede Wahl ist ein Verzicht.‘ Ja sagen zu Jesus heißt, Nein sagen zu meiner eigenen Definition von ‚gut‘ und ‚böse‘, zum Umgang mit meiner Zeit und meinem Geld nach meinem Gusto, zu dem ganzen hyperindividualistischen, antiautoritären und hedonistischen Lebensstil unserer Tage. Es bedeutet tausend kleine Tode, die zusammen ein gewaltiges Leben ergeben. Ich versuche nicht mehr verbissen-vergeblich, alles selber zu kontrollieren, sondern genieße die Freiheit, die Liebe Gottes walten zu lassen. Ich sage Jesus: Was auch kommt, wo es kommt und wann es kommt – ich gehöre dir.“

[1]

Jesus’ Gebet im Garten Gethsemane bringt auf den Punkt, um was es bei einem Lebensstil der Selbstverleugnung geht: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber! Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ (Mt 26,39) Es geht also um die Bereitschaft, mich dem guten, weisen Willen Gottes unterzuordnen, auch dann, wenn dieser meinen gefühlten Bedürfnissen widerspricht.[2]

Doch ist nicht genau damit wieder Tür und Tor für eine niederdrückende, kleinmachende Theologie geöffnet? Höchste Zeit, über die Schönheit von Selbstverleugnung nachzudenken:

Die Schönheit von Selbstverleugnung

Zunächst einmal scheint in unserem Zeitalter, das im Westen Selbstverwirklichung betont wie nie zuvor, nichts ferner zu liegen, als Selbstverleugnung schön zu nennen. Doch der erste Eindruck trügt. Denn eine alleinerziehende Mutter, die eigene Bedürfnisse hintenanstellt und sich heldenhaft um ihre zwei Kinder kümmert, damit die beiden einmal ein besseres Leben haben, verdient auch heute in den Augen vieler Bewunderung. Ähnlich ist es bei Film & Fernsehen: Wie oft sind gerade die Menschen die Helden und Heldinnen, die aus freien Stücken für eine größere Sache auf eigenen Komfort, Vorteile und Bedürfnisbefriedigung verzichten.

Hier sind wir auf der richtigen Spur. Denn in dieselbe Kerbe schlägt Jesus mit seinem fulminanten Doppelgleichnis vom versteckten Schatz und der Perle in Matthäus 13,44-46: Rhetorisch meisterhaft macht er mit wenigen Worten deutlich, dass es bei der Teilhabe an seinem Königreich (Nachfolge) darum geht, aus freien Stücken alles zu verkaufen, um einen wertvolleren Schatz zu gewinnen. Aus diesem Grund überrascht es nicht, dass der Grundton des Gleichnisses Freude ist – etwas, das in zu vielen vergangenen Predigten über Selbstverleugnung verlorengegangen ist. Ja, Jesus mindert den Standard nicht („verkaufte alles, was er hatte“), doch schärft er den Blick für die Schönheit des Preises. Er lädt dazu ein, aus Freude über etwas Größeres das Geringere zu lassen. Denn Selbstverleugnung ist niemals Selbstzweck, sondern immer nur das Mittel zum Zweck: Leben bei und mit Jesus zu finden.

Dass es bei der Aufforderung zur Selbstverleugnung um Jesus’ willen um eine größere „Sache“ geht, macht der Charakter von Jesus’ Königsherrschaft deutlich, der von Gerechtigkeit, Frieden und Freude (Römer 14,17) geprägt ist. Wie sehr braucht unsere ungerechte, kriegstreibende und niedergeschlagene Welt Menschen, die Ja zu diesem König sagen und dadurch zur Ausbreitung seiner guten Herrschaft beitragen! Dieser König Jesus ist gleichermaßen Ausgangs- wie Zielpunkt christlicher Selbstverleugnung: Wir stellen unsere Bedürfnisse nämlich nicht hinten an für eine Ideologie, eine Theologie oder eine kirchliche Institution, sondern für einen personalen Gott. Dieser Gott als Inbegriff der Liebe ist „heilig, heilig, heilig“ und ihm ist – keine Angst! – in Bezug auf die Befriedigung meiner Bedürfnisse so viel mehr zuzutrauen als jedem anderen.

Selbstverleugnung und Dekonstruktion

Die Schönheit christlicher Selbstverleugnung wiederzuentdecken, ist eine Antwort auf die verbreitete unglückselige Form von Dekonstruktion, die Glauben zersetzt und Ent-Kehrung hervorbringt. So mancher wendet sich vom christlichen Glauben ab, weil die Menschen in den Gemeinden so wenig mit dem Jesus in den Evangelien gemein haben. Jesus’ gute Botschaft wird für sie unglaubwürdig aufgrund von schlechten Erfahrung, die sie mit seinen Nachfolgern machen. Es gilt ganz neu, Jesus’ Ruf, bei ihm in die Lebensschule zu gehen, zu betonen und für unsere heutige Zeit durchzubuchstabieren. In seiner Schule ist das Ziel nicht Mittlere Reife, sondern veränderte Herzen mit mehr Liebe für Gott und den Nächsten (vgl. Markus 12,28-31). Dabei ist Selbstverleugnung die Aufnahmebedingung für Jesus’ Schule.

Die Wiederentdeckung von Selbstverleugnung schützt außerdem vor falschen Erwartungen: Leiden für Jesus hatte von Anfang an einen Platz im Leben seiner Nachfolger – immer relativiert durch die viel größere Freude eines Lebens mit ihm. Das auf dem Schirm zu haben und auch jungen Menschen auf passende, altersgemäße Weise zu vermitteln, könnte schmerzhaften, Dekonstruktionsprozesse fördernden Überraschungen vorbeugen.

Selbstverleugnung in unserer Verkündigung

Aus diesem Grund ist es Zeit, von unseren Kanzeln mit neuem Mut und ehrlicher Freude über die Schönheit christlicher Selbstverleugnung zu sprechen. Ja, manches Mal fühlt sich dieser Prozess wie Sterben an, daraus hat Jesus keinen Hehl gemacht. In diesen Phasen brauchen wir eine stützende Gemeinschaft, ein offenes Ohr, das liebevolle Anfeuern unserer Brüder und Schwestern und die Erinnerung: Er ist es allemal wert! Jesus ist der ultimativ Liebende, der treue Freund, der gute Hirte, der mitfühlende Hohepriester, der Befreier der Gefangenen, der Aufrichter der Armen, der gütige Seelsorger, die offene Tür für Randständige und der siegreiche Erlöser! In meinem Büro hängt seit mehr als drei Jahren ein Zitat von Jacky Hill Perry, das zu einem Leitspruch meines Dienstes geworden ist:

„Mein größtes Ziel ist nicht nur, Jesus bekanntzumachen, sondern ihn schön zu machen. Und wenn ich sage ‚machen‘, dann meine ich, ihn so zu zeigen, wie er ist.“

[3]

Ich glaube, Jesus’ Schönheit ist die beste Ausgangslage für herausfordernde Verkündigung! Nach dieser Schönheit will ich mich selbst immer wieder ausstrecken, damit ich sie nicht theoretisch, sondern erfahrungsgetränkt den Kids und Teens beim SOLA vor Augen malen kann. Dadurch entsteht mit der Zeit ein hervorragender Nährboden für christliche Selbstverleugnung.
Auf dass immer mehr (junge) Menschen dahinkommen zu sagen:

Was auch kommt, wo es kommt und wann es kommt – ich gehöre dir, Jesus.

Fußnoten:

1  John Mark Comer: „Live No Lies“, 2021, S. 287f.
2  Ein bewegendes Beispiel dafür liefert die Geschichte meines Freundes David Bennett, der im September 2023 bei uns in Wiedenest zu Gast war (mit Video des Abends), siehe auch den Artikel in den Offenen Türen 2024-1, S. 10.
3  Im Original: „My primary aim in everything isn't merely to make Jesus known but to make him beautiful. And by saying ‚make‘ I mean to show him as he is.“ Jacky Hill Perry, 2020

Artikel erschienen in:
Offene Türen 2024-2
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