Serie Postevangelikalismus Teil 1:
Noahs Arche und das progressive Christentum


ULI NEUENHAUSEN
Leiter von Forum Wiedenest

In diesem Sommer haben meine Frau Anke und ich gemeinsam mit Freunden eine Reise durch die östliche Türkei unternommen. Diese Reise führte uns auch in das Gebirge des Ararat, jenen legendären Bergen, auf denen die Arche des Noah strandete. In meiner Erinnerung musste sie genau auf dem Gipfel gelandet sein, in 5.137 Meter Höhe. Allerdings kamen wir dann zu einem kleinen Besucher- und Dokumentationszentrum zur Arche Noah, die sie deutlich tiefer verortete und in einer Felsformation eine Versteinerung der Arche zu erkennen meint.
 

Dieses Dokumentationszentrum war ein einfaches Gebäude ohne irgendwelche weiterführenden Hinweise. Lediglich ein kleiner Tisch mit einem Buch und etwas Werbung darauf gab Hinweise, dazu drei Infotafeln mit Erklärungen zu Messungen der „Arche“, die wohl das Vorhandensein von Metall (Nägeln und ähnlichem) belegen sollen. Ich hatte Zweifel, und ein Blick in Wikipedia zeigt, dass es dazu auch gute Gründe gab. Tatsächlich aber dachte ich: „Das wäre einfach zu schön, um wahr zu sein.“

Vielleicht war ich enttäuscht, weil ich hier eigentlich Menschenmassen, Kamerateams, Diskussionsforen zur Bibel oder ähnliches erwartet hätte. Stattdessen ein leerstehendes Dokumentationszentrum, eine umstrittene Gesteinsformation und als einzigen Trost eine Tasse türkischen Çay. Hier lag also möglicherweise die (zweite) Wiege der Menschheit – und kaum einen interessierte es.
 

Die Arche – eine Geschichte für Kinder?

Tatsächlich ist die Geschichte von der großen Flut und der Rettung von Noah mit seiner Familie bei vielen Christen unseres Kulturkreises in die Rubrik „Lustige Kindergeschichten“ gerutscht. Entsprechende Bilder für Kinder verstärken diesen Eindruck. Unsere Kultur vermittelt ebenfalls ein Bild von der Bibel, das wie diese Kinderbilder ihre Geschichten „naiv“ wirken lässt.

Kinder können an die Geschichte der Arche Noah glauben, wie sie auch der Erzählung vom Weihnachtsmann glauben. Werden sie aber älter, erwartet man, dass sie diesen Glauben überwinden und „vernünftig“ werden. Das Erstaunlichste ist für mich jedoch, dass diese Art von „vernünftig werden“ mehr und mehr auch in frommen christlichen Kreisen Einzug hält.

Dazu kommt, dass die tatsächliche Geschichte von der Arche Noah mit dem von Gott gewollten Tod vieler Menschen inklusive ihrer Kinder und Tiere zusammenhängt. Noah und seine Familie sind mit den Tieren an Bord die einzigen Überlebenden. Gott versucht einen Neuanfang mit einem frommen Menschen, der aber nicht wirklich überzeugt, wenn man die weitere Geschichte von Noah und der dann folgenden Menschheit liest. Wer möchte so eine Geschichte erzählen und für einen solchen Gott werben? 

Der Wunsch nach einem anderen Umgang mit der Bibel

Wer diese Gedanken nachvollziehen kann, der versteht ein wenig, wieso Christen einen anderen Umgang mit der Bibel möchten. Der Druck der Gesellschaft, nicht naiv irgendwelche alten Geschichten der Bibel zu glauben, und die Zweifel am Gottesbild vor allem des Alten Testamentes führen zur Entfremdung von der Bibel. Das wird durch konfliktträchtige sexualethische Aussagen der Bibel dann noch verstärkt: Scheidung und Wiederheirat, Homosexualität, Sex vor und außerhalb der Ehe, Pornographie – über diese Themen denken auch viele fromme Christen anders als noch vor 50 Jahren.
So entsteht innerhalb christlicher Gemeinden und der evangelikalen Bewegung eine neue Art von Theologie, die manche „Progressives Christentum” nennen, andere „Dekonstruktion” oder auch „Post-Evangelikalismus”, die sich unter anderen aus diesen drei Quellen speisen:

  1. Zweifel an der historischen Glaubwürdigkeit der Bibel
  2. Zweifel an der Gerechtigkeit von Gewalt und von Gericht Gottes
  3. Konflikt des ethischen Anspruchs der Bibel mit der allgemeinen Sexualmoral unserer Kultur und damit möglicherweise auch dem eigenen Lebensstil

Die Arche Noah spricht alle drei genannten Bereiche an: Die Frage, ob eine Sintflut historisch sein kann, ob es gerecht sein kann, dass Gott eine ganze Menschheit auslöscht, und Gottes heftige Reaktion auf abweichende Moralvorstellungen der Menschen. So stehe ich also vor der möglichen Arche und denke: „Gott hat wirklich ernst gemacht. Er hat nicht nur gedroht, er hat auch gerichtet.“ Hunderttausende, vielleicht Millionen Menschen sind ertrunken und nur eine Familie hat überlebt. Es ist lebensgefährlich, gegen Gott zu leben.
 

Die große Flut hat Erinnerungs-Spuren hinterlassen

Egal, ob diese Gesteinsformation nun wirklich die Arche ist oder nicht (es gibt tatsächlich auch einen „verdächtigen” Ort nahe dem Gipfel des Ararat, der zumindest vom Flugzeug aus gesehen ungewöhnlich in seiner Form ist): Gottes Gericht in Form einer großen Flut hat Noah in dieses Gebirge gespült. Und nebenbei Spuren in vielen altvorderorientalischen Schriften hinterlassen: das Atrahasis-Epos (ca. 1.800 vor Christus), das Gilgamesch-Epos (18. Jahrhundert vor Christus), eine von Irving Finkel publiziert Tontafel (ca. 1.700 vor Christus) und Erzählungen in anderen Religionen wie z. B. im Hinduismus. Dort gibt es eine Erzählung vom Fisch Matsya, der den Weisen Manu in einer Arche vor der Sintflut rettet, wie auf dem Gemälde dargestellt.
 

Unbeantwortete Fragen

Die drei Fragen, die die Arche uns stellt, sind noch lange nicht beantwortet:

  1. Historisch ist die Arche längst nicht zur naiven Kindergeschichte verkommen, denn es stehen viele Fragen und Deutungen von Indizien im Raum, die noch wissenschaftlich bearbeitet werden müssen.
  2. Theologisch nützt es nichts, von Gott zu verlangen, er möge bitteschön so sein, wie wir ihn uns wünschen. Der „selbstgemachte Gott“, den der Philosoph Ludwig Feuerbach eine Projektion unserer Wünsche nennt, ist nach der Bibel ein Götze – auch wenn er vielleicht eine Lösung für meine emotionalen Konflikte dargestellt. Er ist aber keine Lösung für die Frage, wie der Tod besiegt wird und wie Menschen aus den Krallen des Bösen gerettet werden. Hier bleibt das, was Gott von sich offenbart, immer eine Zumutung für uns Menschen. Gott fügt sich weder unserer Logik noch unseren emotionalen Bedürfnissen.
  3. Moralisch ist es selbstverständlich kaum zu ertragen, dass Gott mich schlecht nennt, obwohl ich mich selbst eigentlich ganz gut finde. Wer lässt sich schon gerne in sein Leben reinreden und korrigieren, was einem selbst gut gefällt? Gott darf mich gerne bedienen, aber er darf sich bitte nicht in mein Leben einmischen. Eine Gesellschaft und sogar gelegentlich Wissenschaft, die behaupten, dass moralische Zügellosigkeit uns guttue und zustehe, hat es wesentlich leichter, als glaubwürdig wahrgenommen zu werden.

Ist damit die Diskussion beendet? Nein, denn natürlich lassen sich so schwerwiegende Entwicklungen im Leben Einzelner oder auch ganzer Gemeinden nicht mal eben in ein paar Sätzen umdrehen. Viele Argumente der Post-Evangelikalen sind deutlich komplexer und durchdachter, als dass meine schnellen Gedanken an dieser Stelle darauf eine Antwort sein könnten.
 

Die Treue zur Bibel bleibt essenziell

Dennoch möchte ich nicht einfach den Begriff „Bibeltreue” preisgeben. Wenn mich jemand fragt, ob ich bibeltreu bin, wird er ein unumwundenes „JA“ hören. Die Bibel ist von Gott inspiriert, in allen ihren Teilen. Wenn sie historisch berichtet, dann ist sie zuverlässig in den Aussagen, die sie tätigt. Wenn sie Gottes Gedanken und Gefühle wiedergibt, dann spricht sie die Wahrheit.
Ich bin überzeugt, dass weniger Überzeugt-Sein von der Heiligen Schrift nur mit Verlust an Vertrauen auf Gott, Verlust an Mut und Zuversicht des Glaubens durch seine Verheißungen und Verlust an Standfestigkeit in der Auseinandersetzung um unseren Glauben einhergehen kann. Vertrauen, Zuversicht und Standfestigkeit brauchen als festes Fundament eine tiefe Überzeugung von der Zuverlässigkeit der Bibel.

Darüber wollen wir in den Leitartikeln in den nächsten Ausgaben der Offene Türen sprechen:

  • Wie können wir als denkende und fühlende Menschen der Bibel vertrauen, sie lesen und verstehen, so dass es uns und andere ermutigt und stärkt?
  • Wie gehen wir mit den kritischen Anfragen, teilweise aus den eigenen Reihen, um?
  • Wie können wir das Vertrauen in die Bibel in unseren Gemeinden und Kreisen stärken?
  • Wie gehen wir damit um, dass Menschen Gottes Wort missbrauchen, falsch deuten oder selbstgerecht behaupten, dass sie das einzig wahre Verständnis hätten?

Diese und andere Fragen sollen mit den kommenden Leitartikeln beantwortet werden.
 

Artikel erschienen in:
Offene Türen 2022-4
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