Teil 3:
Beweglich bleiben
100 Jahre Forum Wiedenest in Wiedenest – für die einen ein Grund zum Feiern, für die anderen ein Grund zum Fürchten: 100 Jahre, ist das nicht schon viel zu alt, um beweglich zu sein, viel zu festgefahren, routiniert, reglementiert, um noch auf neue Zeiten und Herausforderungen reagieren zu können? In Wirklichkeit ist ja Forum Wiedenest noch älter, weil wir die ersten 14 Jahre in Berlin angefangen haben. Ich traue mich kaum, diesen Artikel zu schreiben, angesichts des Alters unserer Organisation … und ich bin ja auch schon 57 Jahre alt, also aus der Sicht der Teens und Twens wirklich „sehr alt“. 57 oder 77 Jahre – das ist aus deren Sicht kaum ein Unterschied.
Um meine Knochen beweglich zu halten, besuche ich seit vielen Jahren jede Woche eine Gymnastik-Gruppe. Ja, das klingt schon sehr alt, aber ist wirklich hilfreich: Dehnen, belasten, bewegen … Wenn man sich gesund fühlt, dann ist es schon eine Überwindung, sich das jede Woche anzutun. Es ist eine reine Verstandesentscheidung, dass es eben wichtig ist – und basta. So ähnlich verhält sich das auch mit der Beweglichkeit von Gemeinden und Organisationen: So lange wir uns halbwegs gesund fühlen, vermeiden wir Herausforderungen. Warum sollten wir uns das auch antun? Ich habe mal diese Aussage gehört:
1. Nichts ist gefährlicher für eine
Organisation als Erfolg
Erfolg macht träge und vermittelt das Gefühl, man brauche nichts zu tun außer die Früchte seiner Arbeit zu ernten. Sehr erfolgreiche Firmen wie Kodak oder Nokia haben die Veränderungen in Technik und Gesellschaft verschlafen, weil der Erfolg sie träge gemacht hat. Ein 24-jähriger Ingenieur von Kodak hatte in den 70er Jahren die digitale Fotografie erfunden. Kodak entschied damals fatalerweise, diese Erfindung geheim zu halten und nicht umzusetzen, um ihr Kerngeschäft mit Filmrollen nicht zu gefährden, obwohl die Firma 1978 dafür ein Patent anmeldete. Damit leiteten sie ihr eigenes Ende ein. Von der weltweit führenden Firma für Fotografie wurden sie am Ende zum Verlierer. Kodak musste 2012 Insolvenz anmelden.
Der Erfolg benebelt und verführt dazu, alles genau so weiterzumachen wie bisher. Selbst wenn der Erfolg dann abnimmt oder ganz aufhört, ist es schwer, sich von der bisherigen Linie zu lösen. So gibt es Gemeinden, die seit Jahrzehnten die gleiche Form der Evangelisation betreiben, obwohl schon lange keine Menschen mehr zum Glauben gekommen sind. Es gibt Gemeinden, die überzeugt sind, dass ihre Mitglieder kein Training in Sachen Evangelisation benötigen, obwohl seit vielen Jahren kein Gemeindeglied mehr jemanden in die Gemeinde mitgebracht hat, der Jesus noch nicht kennt – geschweige denn, jemanden zum Glauben geführt hat. Wenn dann das gewünschte Ergebnis ausbleibt, wird die Gemeinde ermahnt, dass sie zu wenig bete, zu wenig Mut habe, zu faul sei oder was auch immer. Aber keiner wagt zu fragen, ob vielleicht die Methode falsch ist. Da sie vor 30 Jahren funktioniert hat, hält man daran fest, als wäre die Methode selbst das Evangelium.
Das Gleiche könnte man über Gottesdienste sagen. Was ist überhaupt „Erfolg“ bei Gottesdiensten? Wenn eine Gemeinde darauf zielt, dass in Gottesdiensten Menschen ohne Jesus das Evangelium kennenlernen, dann ist Erfolg, dass Menschen zum Glauben kommen. Wenn aber solche Menschen noch nicht einmal in den Gottesdienst kommen, dann ist es bequem, von „hartem Boden“ oder „Verstocktheit“ zu sprechen. Tatsächlich müsste man doch fragen, in welche Art von Gottesdienst Besucher von außen denn kommen würden. Man kann diese Frage ja mal an die Gemeindemitglieder richten: In welche Art von Gottesdienst würdet ihr denn eure Freunde mitbringen? Wann sollte der beginnen, wie lange dauern und welche Elemente enthalten? Der Umstand, dass die Gemeinde in großer Treue seit Jahrzehnten jeden Sonntagmorgen um 10 Uhr auf der Matte steht und einen manchmal auch viel zu langen Gottesdienst mit Langmut hinnimmt, scheint für manche Verantwortliche schon so viel „Erfolg“ zu sein, dass sie keinen Anlass sehen, über Veränderung nachzudenken.
Wenn Erfolg zufrieden macht, dann wird er zur Bremse für wichtige Entwicklungen. Es braucht eine heilige Unzufriedenheit mit dem Status quo, um Dynamik für Veränderungen zu gewinnen. Wenn wir uns damit abgefunden haben, dass nur knapp 2 % der Deutschen Jesus kennen oder diese Zahl schon als Erfolg ansehen, dann werden wir träge und verlieren unsere Kreativität, um Menschen zu erreichen. Anton Schulte, ein ehemaliger Wiedenester und Gründer des Missionswerkes „Neues Leben“ war so ein Mensch mit heiliger Unruhe. Als er realisierte, dass die nach dem 2. Weltkrieg sehr erfolgreiche Zeltmission irgendwann in ihrer Wirkung nachließ, suchte er nach neuen Möglichkeiten zur Verkündigung des Evangeliums und fand sie zum Beispiel in der Radioarbeit. Später kam das Fernsehen dazu, die Sport-Mission usw. Heilige Unruhe bewahrt uns vor Selbstzufriedenheit und Trägheit. Artur Siegert von der Kirche für Oberberg möchte, dass in Deutschland eine Millionen Menschen mehr Jesus kennenlernen. Das macht ihn unruhig und uns auch. Wenn wir so ein Ziel erreichen wollen, was müssen wir dann anders machen als bisher? Wie lässt sich dieses Ziel verwirklichen? Mit den bisherigen Mitteln sicher nicht, sonst wären wir ja in der Vergangenheit dem Ziel schon nähergekommen. Aus diesen Überlegungen ist unter anderem das Schulungsprogramm K5-Leitertraining entstanden, das heute fast 4.500 Menschen in guter Leiterschaft trainiert. Und es wird noch mehr entstehen, weil uns heilige Unruhe treibt. Wie können wir diese heilige Unruhe erzeugen bzw. wachhalten?
2. Die neue Generation zügig
in Verantwortung bringen
Gott schenkt uns mit jeder Generation von Menschen auch solche, die uns heraus fordern und keine Ruhe geben, bis wir wieder in Bewegung kommen. Das lässt sich gerade jetzt bei der jungen Generation beobachten, die keine Ruhe mehr geben will, bis ihre Eltern- und Großelterngeneration die Klimaproblematik endlich ernst nimmt. Solche „Unruhestifter“ gibt es auch in den Gemeinden, und gesegnet sind die Gemeinden, die das ernst nehmen und diese Leute nicht mundtot machen. Zuhören, Konflikte willkommen heißen und Diskussion und Auseinandersetzung nicht abwürgen – das sind geistliche Übungen zur Erhaltung der eigenen Beweglichkeit.
Auf der Internationalen Missions-Konferenz der Brüdergemeinden (IBCM) in Rom im Frühjahr hörte ich von einem interessantes Modell, die Kommunikation und Dynamik der verschiedenen Generationen in einer Gemeinde zu nutzen. Es ging um eine Gemeinde in Australien, die nicht nur ihre Ältesten auswählt, sondern gleichzeitig einige „Senior Elders“, also ehemalige Älteste, die beratend dem Leitungskreis zur Seite stehen, aber
keine Entscheidungsbefugnisse mehr haben, sowie einige „Junior Elders“, also junge Leute, die noch nicht mitentscheiden, aber schon zuschauen, mitreden und lernen dürfen. So werden auch die jungen Leute schon früh mit in Verantwortung genommen, ohne gleich die ganze Last der Leitung tragen zu müssen. Ihr Beitrag wird gehört und ernst genommen, und die Gemeinde hat die Chance, sich zu verändern, damit sie auch weiterhin ihren Auftrag erfüllen kann.
Die Verjüngung von Gemeinde durch den Beitrag von Jüngeren ist heutzutage eine noch viel größere Herausforderung. Gerade meine Generation, die sogenannten Baby-Boomer (geboren in den 1950er- und 1960er-Jahren), ist jetzt in leitenden Positionen. Wir sind sehr viele, weil unsere Jahrgänge geburtenstark waren, und wir sitzen sicher in unseren Positionen und blockieren diese für nachrückende jüngere Leute – oft ohne es zu bemerken. Unsere schiere Menge, unsere Erfahrung und Selbstsicherheit machen es der nächsten Generation besonders schwer, sich Gehör zu verschaffen. Jesus warnt vor neuem Wein in alten Schläuchen: Der Wein entwickelt Druck und zerreißt diese Schläuche. Neuer Wein braucht neue Schläuche. Wir träumen zwar davon, dass die jungen Leute ihre Zeit, Kraft und Kreativität in die Gemeinde einbringen, aber bitte, ohne etwas an dem Programm, der Gestaltung oder den Abläufen zu ändern. Die haben wir selbst doch so gut entwickelt. Das muss irgendwann zerreißen, und dann gehen junge Leute enttäuscht in andere Gemeinden oder gründen etwas, das zu ihnen passt. Im schlimmsten Fall gehen sie für Jesus verloren – der Wein verschüttet. (Markus 2,22)
3. Die neue Zeit nicht nur als Bedrohung sehen,
sondern auch als Chance
In der Sicht mancher Menschen wird immer alles schlechter: Was gestern war, ist deshalb zwangsläufig besser gewesen als das, was morgen kommen wird. Der schwarze Schwan, das ist auf jeden Fall nur Unheil. Die Beschreibungen der Bibel vom Ende der Welt scheinen dieser Sicht Recht zu geben: Die Herzen erkalten, die Menschen verraten einander, falsche Christusse stehen auf etc. Aber es gibt auch die andere Seite. Zum Beispiel sagt Jesus in Markus 4,26-29:
„Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät; dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre. Sobald aber die Frucht reif ist, legt er die Sichel an; denn die Zeit der Ernte ist da.“
Das Evangelium wächst – zwangsläufig. Wenn es ausgesät ist, wächst es und bringt Frucht. Das Reich Gottes wächst. Es geht immer weiter, wir wissen selbst manchmal nicht wie: Ein Muslim träumt von Jesus und wird Christ; ein Häftling raucht die Bibel, liest jede Seite, bevor er Tabak drin einwickelt, und wird Christ; eine ganze Kirche gerät in China in heftigste Verfolgung und ist nach 70 Jahren fast 100 Mal so groß wie vor dieser Verfolgung. Das Reich Gottes wächst! Es gibt allen Grund zur Hoffnung. Klar, das Böse wächst auch. Aber wir haben keinen Auftrag, darüber zu jammern oder ständig nachzudenken. Wir schauen auf das Gute, das gedeiht, und tun alles, um es mit zu entwickeln. Wir greifen nach allen Möglichkeiten, um das Evangelium bekannt zu machen. Wir suchen nach immer neuen Worten für die alte Wahrheit, nach neuen Beispielen und Bildern, nach neuen Formen und Medien. Ich glaube Jesus, dass auf das Säen des Evangeliums das Wachstum geschieht. Und ich sehe, dass das auch im Jahr 2019 nicht aufgehört hat.
4. Für Jesus kämpfen, niemals für uns selbst!
In Lukas 17,7-10 erzählt Jesus ein sehr provozierendes Gleichnis:
„Angenommen, einer von euch hat einen Knecht, der ihm den Acker bestellt oder das Vieh hütet. Wenn dieser Knecht vom Feld heimkommt, wird dann sein Herr etwa als Erstes zu ihm sagen: ›Komm und setz dich zu Tisch!‹? Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: ›Mach mir das Abendessen, binde dir ´einen Schurz` um und bediene mich! Wenn ich mit Essen und Trinken fertig bin, kannst auch du essen und trinken.‹? Und bedankt er sich hinterher bei dem Knecht dafür, dass dieser getan hat, was ihm aufgetragen war? Wenn ihr also alles getan habt, was euch aufgetragen war, dann sollt auch ihr sagen: ›Wir sind Diener, weiter nichts; wir haben nur unsere Pflicht getan.‹“
Unser Engagement für die Gemeinde, unser Einsatz über Jahre und Jahrzehnte, unsere vielen guten Taten und die vielen Opfer, die wir gebracht haben: Sie sind keine außerordentlichen Taten, sondern das, was wir selbstverständlich für Jesus tun – und nicht für uns selbst. Natürlich täte es gut, wenn sich die nachrückende Generation bei uns bedankte, wenn sie uns hofierte und ehrte und lobte für unseren Einsatz, wenn sie auf uns hörte und alles genau so machte, wie wir es schon immer für richtig gehalten haben. Aber wir haben darauf kein Recht. Wir sind Diener – weiter nichts. Diener stehen im Hintergrund, ihre Namen interessieren nicht und ihre Leistungen werden als selbstverständlich erwartet und deshalb nicht extra gewürdigt. Wohl den Leitern, die ihre Aufgaben zeitig und gerne an die nächste Generation abgeben und sich nichts darauf einbilden, was sie alles für die Gemeinde gemacht haben. Wohl denen, die nicht um ihre Anerkennung und die Aufmerksamkeit der anderen kämpfen müssen, sondern gerne und unauffällig in den Hintergrund treten. Wohl denen, die das, was sie tun, wirklich für Jesus tun und nicht für sich selbst, für ihre Ehre, ihre Identität, ihre Sucht nach Anerkennung, ihren Lust auf Einfluss, ihren Drang zur Kontrolle, ihren Willen zur Macht. Solche Leiter fürchten die Veränderung nicht, sondern begrüßen jeden Schritt, der Jesus in die Mitte stellt und Menschen zu ihm einlädt, sie machen anderen Mut und fördern früh schon die nächste Generation von Leitern.
Beweglich bleiben ist möglich – aber Bewegung schmerzt auch, so wie meine Rückengymnastik. Von beiden bin ich überzeugt: Sie tun uns gut und erhalten uns gesund.