Teil 1:
Ist das Leben planbar?
Ein Schwan ist weiß. Das weiß man in Europa seit vielen tausend Jahren. Besser gesagt: Man wusste es ... bis zum 17. Jahrhundert, als das erste Mal von schwarzen Schwänen in Australien berichtet wurde. Der Autor Nassim Nicholas Taleb aus dem Libanon gebraucht in seinem Buch The Black Swan: The Impact of the Highly Improbable („Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse”) das Bild vom schwarzen Schwan als Beispiel für Ereignisse, die völlig unvorhergesehen eintreffen.
Die Entdeckung der schwarzen Schwäne in Australien waren solch ein völlig unvorhergesehenes Ereignis. Bis dahin war grundsätzlich klar, dass Schwäne immer weiß sind. Niemand ahnte, dass es auch schwarze Schwäne geben könnte. Bei Taleb sind diese Schwarzen Schwäne ein Bild für Ereignisse wie Börsencrashs, unerwartete Kriege oder auch Terroranschläge wie der auf das World Trade Center im September 2001. Es ist geradezu demütigend, wie wenig wir Menschen diese Ereignisse vorausberechnen konnten, trotz aller Technik und Wissenschaft. Sie überraschten uns genauso, wie im 17. Jahrhundert die Schwarzen Schwäne Australiens die Zoologen in Europa überraschten.
Wieso überrascht uns die Zukunft?
Der Grund für den Überraschungseffekt unvorhergesehener Ereignisse liegt in der falschen Selbsteinschätzung von uns Menschen. Wir meinen, wir könnten aus den Erfahrungen der Vergangenheit und durch sorgfältiges Studieren der Fakten in etwa voraussagen, was auf uns zukommt. Obwohl die Wirklichkeit uns ständig beweist, dass wir gerade das nicht können, geben wir diesen Glauben an unsere „zuverlässigen Prognosen” einfach nicht auf. Dabei sind weder unsere Analysen noch unsere Prognosen auch nur annähernd so gut, wie wir es meinen. Grundsätzlich haben Menschen eine starke Tendenz, Ereignisse und Fakten misszuverstehen. Taleb sieht unsere Tendenz zu Missverständnissen vor allem in drei Bereichen:
- Der Mensch gibt sich der Illusion hin, gegenwärtige Ereignisse zu verstehen.
- Der Mensch verzerrt im Rückblick die Ursachen und Entwicklungen historischer Ereignisse.
- Der Mensch überschätzt die Bedeutung von Sachinformation und bewertet die Kompetenz der intellektuellen Elite zur Deutung und Erklärung der Gegenwart und zur Voraussage der Zukunft deutlich zu hoch.
Diese drei Tendenzen führen dazu, dass wir uns nicht auf die Zukunft einstellen können − sie überrascht uns immer wieder neu. So war ich letztes Jahr wirklich überrascht, als ich zum ersten Mal die Dörspe, den Bachlauf, der durch das Gelände von Forum Wiedenest führt, ausgetrocknet sah. Das widersprach aller Erfahrung. Menschen beurteilen die Zukunft nach dem, was sie in der Vergangenheit erlebt haben. Monatelang kein Regen in Wiedenest? Das hat wahrscheinlich noch selten jemand erlebt. Der Sommer 2018 in Wiedenest war jedoch so trocken, dass die Dörspe tatsächlich kein Wasser mehr führte. Irgendwie scheint das etwas mit dem Klimawandel zu tun zu haben. Ich hatte jedoch vor gefühlten zehn Jahren oder so gelesen, dass der Klimawandel in unseren Breitengraden zu nasseren und kühleren Sommern und nasseren und wärmeren Wintern führen würde. Das hatten Experten vorausgesagt. Für letzten Sommer war die Voraussage aber falsch. Überrascht waren dann auch viele, dass der Benzinpreis in die Höhe schnellte, weil Tanker auf dem Rhein infolge des niedrigen Pegelstandes nur noch die Hälfte an Sprit transportieren konnte und es zu Engpässen an den Tankstellen kam. Überraschend war nach Taleb der Bankencrash 2008, ebenso überraschend aber auch die schnelle wirtschaftliche Erholung. Überraschend ist, dass wir nun zehn Jahre kontinuierlichen Aufschwung in Deutschland erlebt haben. Am meisten aber hat es mich überrascht, dass der ständig wachsende Schuldenberg der Bundesrepublik Deutschland zwischenzeitlich wieder ein bisschen abgebaut werden konnte.
Wie lässt sich überhaupt planen?
Das Leben lässt sich nicht vorausberechnen. Ich war geschockt, als vor fünf Jahren der Prediger Hans Peter Royer, mein Altersgenosse, bei einem Unfall starb. Wieso nahm Gott einen so begabten, gottesfürchtigen und gesegneten Prediger mitten im Leben aus dem Leben? Warum konnte er nicht so alt werden wie Billy Graham? Auch Gott handelt überraschend und lässt sich weder vorausberechnen noch mit einfachen Erklärungen durchschauen.
Wenn sich die Zukunft so wenig vorausberechnen lässt, wie kann man dann eigentlich planen? Als ich im Sommer auf dem Herzogstand in Bayern war, las ich vom Projekt: der Längstwellen-Antennenanlage. Ziel war damals, Funkwellen aus der ganzen Welt mit Hilfe einer drei Kilometer langen Antenne empfangen zu können, die von der Bergspitze bis hinunter an den Kochelsee führte, frei hängend. Das war eine enorme technische Herausforderung. 1920 begannen die Baumaßnahmen, die letzten Arbeiten wurden 1927 fertig gestellt. Bei Fertigstellung hatte sich jedoch das Projekt erledigt − mittlerweile konnte man weltweite Funkverbindungen über Kurzwelle wesentlich preiswerter und mit deutlich kleineren Antennen herstellen. Immerhin konnte die Antennenanlage am Herzogstand noch als Forschungsprojekt eingesetzt werden. Der eigentliche Zweck aber hatte sich schon während des Baus der Anlage erübrigt.
Das Leben ist nicht planbar. Wir glauben, wir könnten voraussagen, dass alle Schwäne weiß sind – bis wir eines Tages schwarze Schwäne sehen. In Wirklichkeit sind wir nämlich dem Leben ausgeliefert und wissen noch nicht mal, was morgen auf uns zukommt. Das gilt auch trotz der prophetischen Aussagen der Bibel. Es ist beeindruckend, wie viele dieser Aussagen tatsächlich eingetroffen sind.Aber niemandweiß, ob sie morgen eintreffen. Ich bin überzeugt, dass Jesus schon morgen wiederkommen kann. Aber ich weiß es nicht, ob es morgen sein wird. Jesus hat das ausdrücklich seinen Jüngern mitgegeben:
„Jesus gab ihnen zur Antwort: „Es steht euch nicht zu, Zeitspannen und Zeitpunkte zu kennen, die der Vater festgelegt hat und über die er allein entscheidet.“ Apg 1,7
Wie kann man aber planen, wenn sich die Zukunft nicht prognostizieren lässt? Schon Jakobus warnt vor zu optimistischen Langzeitplanungen: „Nun zu euch, die ihr sagt: ‚Heute oder spätestens morgen werden wir in die und die Stadt reisen! Wir werden ein Jahr lang dort bleiben, werden Geschäfte machen und werden viel Geld verdienen!‘ Dabei wisst ihr nicht einmal, was morgen sein wird! Was ist schon euer Leben? Ein Dampfwölkchen seid ihr, das für eine kleine Weile zu sehen ist und dann wieder verschwindet. Statt solche selbstsicheren Behauptungen aufzustellen, solltet ihr lieber sagen:
„Wenn der Herr es will, werden wir dann noch am Leben sein und dieses oder jenes tun.“ Jak 4,13-15
Jesus selbst beleuchtet dies auch von der anderen Seite, nämlich den Sorgen:
„Macht euch keine Sorgen um den nächsten Tag! Der nächste Tag wird für sich selbst sorgen. Es genügt, dass jeder Tag seine eigene Last mit sich bringt.“ Mt 6,34
Wie leitet man ein christliches Werk, wenn man keinen blassen Schimmer hat, welcher Schwarze Schwan am nächsten Tag auftauchen wird? Wie plant man Gemeinde und Mission, wenn die Zukunft so unsicher ist? Wie funktioniert Leitung, wenn wir so viel weniger Durchblick haben als wir glauben? Wir möchten doch gerne, dass Leiter weise und vorausschauend handeln, alle Gefahren im Vorhinein schon ahnen und umgehen, alle Chancen im Vorhinein schon wahrnehmen und nutzen. In Wirklichkeit ist dieser Wunsch nur Träumerei. Am Ende sind wir völlig frustriert, weil das Leben mal wieder anders kommt, als wir geplant haben. Die wenigen Leiter, die scheinbar alles richtig gemacht haben, hatten wohl auch eine ganze Portion Gnade von Gott dabei. Wäre es nicht tatsächlich besser, alle Planung unter dem Vorbehalt der Wirklichkeit vorzunehmen, wie es Jakobus sagt.
Was ist wichtiger als Planung?
Mir scheint, dass folgende Elemente dabei eine Rolle spielen:
- Gelassenheit: Gelassenheit halte ich für eine zentrale Qualifikation von Menschen, die andere leiten. Es ist schwierig, gelassen zu bleiben, wenn die Angst vor der Zukunft hochkommt: Wird das Geld reichen? Werden Konflikte gelöst? Wird das Projekt gelingen? Wird das Programm angenommen? Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe für jeden Leiter, seine Ängste vor Gott auszusprechen und zu klären, dass Gott auch trotz der eigenen Angst vertrauenswürdig und zuverlässig bleibt. Die Gelassenheit kann nicht aus dem Glauben an meine Fähigkeiten und mein Wissen kommen. Sie muss aus dem Vertrauen auf Gott kommen, damit sie auch in Krisen bleibt. Gelassenheit darf weder mit Sturheit noch mit Gleichgültigkeit verwechselt werden. Sturheit bedeutet, dass man sich von nichts und niemandem beeinflussen lässt und das tut, was immer schon funktioniert hat. Gleichgültigkeit kann schon mal wie Gelassenheit wirken, ist es aber nicht. Sie ist eine Form der Lieblosigkeit. Wem die Zukunft egal ist, den regen Bedrohungen nicht auf. Manche buddhistischen Meditationsformen zielen auf solch eine Haltung: Gleichmut. Wen aber Gelassenheit prägt, dem sind das Leben der Menschen und ihre Entwicklung nicht egal. Diese Gelassenheit ist engagiert, liebevoll, besorgt, aber voller Vertrauen auf Gott, der am Ende alles gut macht: „Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.” (Oscar Wilde)
- Gebet: Wenn Gelassenheit auf meinem Vertrauen auf Gott beruht, dann ist Gebet sowohl die Entsorgung meiner Angst bei Gott als auch die immer wieder neue Entscheidung, Gott alles zuzutrauen. Leiten ist angesichts der Unberechenbarkeit des Lebens Glückssache. Und für Glück ist alleine Gott zuständig, niemand anders.
- Beweglichkeit: (Agilität) – Wenn jeder Tag völlig anders verlaufen kann als geplant, dann kann ich nicht an meinen Plänen festhalten. Was bisher funktionierte, kann morgen schon falsch sein. Einige Unternehmen haben das bitter lernen müssen, wie zum Beispiel Nokia. Einst führend in der Herstellung von Mobiltelefonen und Smartphones, wurde es in atemberaubender Geschwindigkeit durch Appel und Samsung verdrängt. Was sich über viele Jahre wunderbar verkaufte, war plötzlich nicht mehr gefragt. Etwas weniger Selbstzufriedenheit, etwas weniger Sicherheit aufgrund von Erfahrung und deutlich mehr Beweglichkeit, um auf neue Herausforderungen zügig zu reagieren, hätten Nokia vielleicht gerettet. Wenn eine Gemeinde seit Jahren keine Menschen im Umfeld mit dem Evangelium erreicht, dann wird es Zeit für neue Wege. Es gab und gibt Zeiten und Orte, wo zentrale Evangelisationen wunderbare Werkzeuge sind, um Menschen einzuladen und mit dem Evangelium bekannt zu machen. Wo Menschen dieses Angebot aber nicht (mehr) wahrnehmen, dort müssen neue Werkzeuge gefunden werden.
- Beteiligung aller Mitarbeiter: Bleiben wir beim Thema Evangelisation der Gemeinde. Typischerweise machen sich Evangelisten und Pastoren darüber Gedanken, wie man Menschen zu einer Evangelisation einladen kann und wie man die Gemeinde dazu bringt, Freunde und Kollegen einzuladen. Die eigentlichen Experten für diese Fragen sind aber nicht die Planer, sondern diejenigen, die tatsächlich Freunde außerhalb der Gemeinde und Kollegen haben. Anstatt eine Gemeinde zu überreden, Menschen zu einem angebotenen Programm einzuladen, sollte man vielmehr die Gemeindemitglieder fragen, was für ein Programm denn angeboten werden müsste, damit sie Freunde und Kollegen einladen. Der Wurm muss dem Fisch schmecken und nicht dem Evangelisten – pardon, Angler. Die „Evangelisation” muss den Besucher ansprechen, nicht die Gemeinde. Und erst recht nicht den Pastor oder Evangelisten. Innerhalb der Gemeinde können dies am ehesten die Gemeindeglieder selber beurteilen, weil sie tatsächlich mit vielen Menschen außerhalb der Gemeinde in Kontakt sind.
- Mut: Wenn ich nicht weiß, was kommt, was funktioniert, was angenommen wird, dann kann ich es ausprobieren. Wir brauchen Räume und Mut zum Experimentieren. Wir haben vielleicht keine Ahnung, wie die heutige Zeit funktioniert und was morgen noch geeignet ist, um das Evangelium in die Welt zu bringen. Aber wir dürfen ausprobieren, wir dürfen auch Fehler machen und gemeinsam daraus lernen. Wir dürfen jungen Leuten etwas zutrauen. Wir dürfen gemeinsam Neues entwickeln – auch, wenn es nicht immer meinem persönlichen Geschmack und meinen eigenen Vorlieben entspricht.
„Lasst uns der Welt antworten, wenn sie uns furchtsam machen will: Eure Herren gehen – unser Herr aber kommt!“
sagte Gustav Heinemann in seiner Rede auf dem Essener Kirchentag 1950. Kein Schwarzer Schwan, sondern ein Weißer Reiter (Off 19) kommt auf uns zu: Jesus Christus. Deshalb beunruhigen uns die schnellen Veränderungen dieser Welt nicht. Wir bewahren keine Traditionen und müssen auch nicht vorausberechnen, was aus unserem Leben wird. Wir vertrauen Jesus Christus und wagen alles, um Seinen Auftrag zu erfüllen:
„... der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.“ Lukas 19,10